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Freitag, 13. Februar 2015

RECHT/ Leseprobe II: Frankfurt am Main.



Frankfurt am Main,
22. April 2014.
Kriminalhauptkommissar Sebastian Kniewasser, von der hessischen Unterwelt liebevoll »Kreuzbandriss« genannt, traute seinen Augen und Ohren nicht. Er fühlte sich schlagartig energielos. Er hatte irgendwann – vor zehn Jahren oder so – aufgehört, mitzuzählen, wie viele gestrauchelte Existenzen und harte Jungs er während seiner Dienstzeit in den Knast oder in die Klapse gebracht hatte. Und die Probleme der »armen« Reichen gingen ihm ehrlich gesagt am Arsch vorbei. Aber Familientragödien, die schlugen ihm aufs Gemüt, egal ob sie in Bockenheim oder wie heute in der Höchster Altstadt geschahen.
Das schiefergraue Kopfsteinpflaster schimmerte nieselregenfeucht, und Kniewasser betrachtete das gutbürgerliche historische Fachwerkhaus zwischen Bolongarostraße und Burggraben seltsam gleichgültig. Obwohl er für die atavistische Melancholie des Augenblicks überaus empfänglich gewesen wäre, hätte ihn nicht sein Beruf hergeführt, sondern ein Sonntagsausflug.
(…)
Im Hausflur war es kühl, ungeheizt und feucht. Kniewasser raffte blitzschnell seine sieben
Sinne. Der erste Eindruck passte schon mal gar nicht zu seiner Erwartung, nicht zu dem honigsüßen Pfefferkuchenhäuschenimage des Familienheims in bester Wohngegend. Schon gar nicht zu den fröhlichen Gesichtern der ansehnlichen und herzeigbaren Kinder und der noch viel hübscheren Enkelkinder, deren Fotos die Wände und die Stellflächen der Möbel beherrschten. Die plakative Masse breitete sich aus, die stets gutgelaunten selben Gesichter auf den Fotos, sie alterten, zu jedem Anlass kam ein weiteres Bild im Rahmen dazu. Wohin Kniewasser auch blickte, überall grinste ihn jemand an. »Die haben wohl nie Dünnschiss oder schlechte Noten …«
Der Kriminalhauptkommissar runzelte die Stirn, zog die Gummihandschuhe an, schlüpfte in die Kunststoffschuhüberzüge und setzte seine Schritte fortan wohlüberlegt. Er sah sich nach allen Richtungen im Hausflur um. Die Eingangstür stand schon eine gute Stunde lang offen, weil Uniformierte und die Spurensicherung ein und aus liefen, aber der anhaltende Durchzug erklärte weder den Geruch noch tilgte er den Mief, der sich über Wochen und Monate in den Teppichen und der Tapete festgesetzt hatte. Kniewasser wurde neugierig, er wollte das Umfeld des Opfers verstehen.
(…)
Handlauf und Stufen der Holztreppe in das obere Stockwerk waren staubig. Kniewasser ließ die Fingerspitzen im Vorübergehen über die Kommoden, das Nippes und die Bilderrahmen gleiten und zerrieb den grauen Staubfilm zwischen seinen Fingerspitzen. Ungepflegt aber nicht unordentlich präsentierten sich auch alle anderen Wohnräume. Wohn- und Speisezimmer verströmten den erstarrten Charme und das muffige Ambiente von Schauräumen in schlechtbesuchten Stadtmuseen. Das Ehebett im Schlafzimmer war unberührt, Zierkissen und Tagesdecke waren lange nicht bewegt worden, in dem Bett schlief niemand mehr. Nur in der Küche stapelte sich das Geschirr, der Geschirrspüler
jedoch war unbenutzt. Gegessen wurde am Küchentisch.
Kniewasser zog seine Schlüsse und machte sich Notizen. Das Opfer lebte alleine und leistete sich keine Putzfrau. Der Kommissar linste wieder zu den Familienfotos hinüber, Töchter und Schwiegertöchter schwangen in dem Haus weder den Staubwedel noch warfen sie den Staubsauger an. Kniewasser setzte die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Vielleicht war der Alte auch ein eigenbrötlerisches Ekel geworden, nachdem seine Frau gestorben war. Das war nicht nur möglich, sondern für ihn auch gutnachvollziehbar.
Kniewasser schob sich die Brille zurück auf die Nase, legte die Stirn in Falten und blickte zu dem Porträt des fröhlichen älteren Ehepaars hinüber. Ein Trauerflor bedeckte die rechte obere Ecke. Der plötzliche Stich in der Brust rührte sich ebenso unerwartet wie unerwünscht. Kniewasser schnaubte, winkte ab und trabte weiter. Er fokussierte sich auf den Auftrag und setzte die Amtsmiene auf.
Blitzlichter und Stimmen wiesen Sebastian Kniewasser die Richtung in den südlichen Teil des Hauses. Er drängte sich grußlos an der Spurensicherung vorbei. Durch das weißlackierte Holzrahmenfenster waren die Bäume und das Grün des Burggrabens zu sehen. Der Vorhang aus dichtem Stoff war zur Seite geschoben, und das wolkentrübe Tageslicht fiel herein. Kniewasser runzelte die Stirn, die Vorhangstange war blank, kein Staub an der Oberseite, dafür aber an den Vorhangschlaufen. Dieses Detail hatte man also verändert, der Stoff war normalerweise zugezogen. Er hob den Arm, legte die Hand auf den Nacken und suchte nach dem Schützenswerten, dem Wertvollen, dem das Licht zusetzte. Schließlich zog er einen Mundwinkel nach oben. Es war so offensichtlich, dass er den Wald vor lauter Bäumen fast übersehen hätte. Die Büchersammlung dominierte das geräumige Büro. Kniewasser musterte die gepflegten und staubgewischten antiken Bücherschränke, die schmalen gleichförmigen und fast gleichfarbigen Buchrücken hinter den Glastüren. Die schmalen Bändchen formten einen pastellfarbigen Farbverlauf, der gut mit den altrosa und rosa gestreiften Seidentapeten harmonierte. Und erst auf den zweiten Blick, beim genauen Hinsehen, erkannte Kniewasser die unterschiedlichen Muster und Dekors der Einbände. Der Kommissar war beeindruckt und schmunzelte. In den Bücherschränken des Alten ruhte eine wohl beinahe vollständige Sammlung der rund tausendvierhundert Pappbände der Insel-Bücherei.
Der Schreibtisch mit dem Computer zeigte Benutzungsspuren, auch die Couch. In dieser Bibliothek hatte das Opfer seine Tage und auf dem Sofa die Nächte zugebracht. Aus Kissen und Decken war die Schlafstatt improvisiert, eine tiefe faltige Kuhle bewies, dass hier regelmäßig geschlafen worden war. Dieser Raum war der Lebensmittelpunkt des Opfers gewesen. Darum hatte ihn hier und nirgendwo anders der Tod gesucht und gefunden.
Der groteske Kupferstich im Stehrahmen war dem Eintretenden zugekehrt und zog Kniewassers Aufmerksamkeit in den Bann. Die feingliedrige Grafik zeigte die Figur eines Raben, der breitbeinig unter dem Gerüst eines Galgens hockte. Der schwarze Vogel reckte dem Betrachter den schnabelbewehrten Kopf entgegen, in dem kleine aufmerksame Augen voll bösartiger Gier steckten. Jeden Moment drohte der Rabe krächzend aufzuflattern, Kniewasser mitten ins Gesicht. Hinter der großen Krähe im Vordergrund erkannte der Kommissar zwölf weitere Aasvögel, die wie aufgefädelt in einer Reihe auf dem hinteren Querbalken des Blutgerichts rasteten und wohl ihr letztes Festmahl verdauten. Auf dem gemauerten Fundament im Schatten des Raben stand eine vierzeilige Inschrift. »Voyez Loyal, ou Chicaneur«, lauteten die letzten Worte. Eine leere Henkersschlinge baumelte im Wind, und Kniewasser meinte, die Taue leise knarzen zu hören.

»Oje, es muss ernst sein, wenn die Adenauerstraße ihren Widerstandsbeamten von der Leine lässt …«, sagte eine Frauenstimme.
(…)
»Die Herrschaften von der Gebeschusstraße sind schon wiederweg?«, erkundigte sich Kniewasser mit verblüffend lebensecht gelungener Unschuldsmine und hob mit der Schuhspitze den Teppich an, um theatralisch nachzusehen, ob sich darunter nicht noch einer vor ihm versteckte.

Jennewein richtete sich auf und stützte sich auf das angewinkelte Knie. Sie musterte Kniewassers Züge, und ein süffisantes Lächeln umspielte ihre geschwungenen Lippen. »Ich weiß auch nicht, kaum haben die Kollegen von der Direktion Süd die frohe Botschaft vernommen, dass Sie kommen, da waren sie auch schon weg, und kein gutes Zureden konnte sie hierhalten.«

»Ach, wie schade!«, seufzte Kniewasser. »Wo ich doch so gerne mit den Jungens spiele.« Er machte einen Schritt auf den Toten zu, beugte sich hinunter und stocherte mit dem Kugelschreiber im Gesicht der Leiche herum, wobei er die Mundwinkel des Alten mal nach oben und mal nach unten zog. »Fröhlich! Traurig. Fröhlich! Traurig. Fröh…« Kniewasser schnellte hoch. »Ich bin froh, Sie hier zu sehen, Sarah – und keine von den Flachzangen.« Kniewasser stellte sich neben Jennewein und den Toten in das Licht der Scheinwerfer. »Was können Sie mir zum jetzigen Zeitpunkt über Zeitpunkt und Todesursache sagen?«

»Dass der Name des Opfers Hermann Schroeder ist und dass der Mann tot ist.« Jennewein feixte nicht, sie meinte es ernst. »An den Verletzungen ist er nämlich nicht gestorben. Okay, er hat sich gewehrt, gekämpft sogar. Die Schwere der Hämatome rührt aber vorrangig von der Antikoagulation her. Das heißt, von der Einnahme sogenannter Blutverdünner, die er wohl wegen eines chronischen Herzleidens geschluckt hat.« Sie deutete auf die Arzneimittelschachteln auf dem Beistelltisch neben der Couch, auf die Medikamente Marcumar und Falithrom. »Vielleicht war die Todesursache ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Ich weiß es erst, nachdem ich ihn aufgemacht habe.«

»Verstehe.« Kniewasser machte sich eine Notiz. »Wo ist unser Haupttatverdächtiger jetzt? Wo ist der Enkel?«

»So viel man mir gesagt hat, ist er noch im Zimmer nebenan, aber sie verladen ihn demnächst in die Grüne Minna.« Jennewein bewegte den Kopf des Toten hin und her. »Ich frage mich: Warum hat der alte Schroeder sich wegen eines dieser Bücher so aufgeregt? Wo er doch so viele davon hat? Und wenn der Junge das eine unbedingt hat haben wollen – Bitte! – Sammler hin, Sammler her. Das ist doch nur ein Insel-Buch. Die sind antiquarisch bloß zwischen einem und zwanzig Euro wert.«

»Hmmm«, brummte Kniewasser mehrdeutig und nickte. Obwohl er Jennewein im letzten Punkt keineswegs zustimmte. Er war mit seinen Überlegungen schon ein paar Schritte weiter. Es gab bestimmte Ausgaben dieser besonderen Buchreihe aus dem Leipziger, dann Wiesbaden/Frankfurter und jetzt – er rollte mit den Augen – natürlich Berliner Insel Verlag, die weit mehr wert waren als ein paar lumpige Euros. Einigen Sammlern offensichtlich sogar mehr als ihr eigenes Leben … Kniewasser ließ den Kugelschreiber in der Innentasche seines Kurzmantels verschwinden. Er sah sich um, zog die Mundwinkel nach unten, tippte sich mit dem Notizblock ans Kinn und ging auf und ab. »Eines würde mich noch viel mehr interessieren …«

Sarah Jennewein richtete sich auf. Sie wischte sich mit dem Handgelenk die Haare aus dem Gesicht und beobachtete den Kommissar. »Ist das die Frage, die die Adenauer-Straße dazu gebracht hat, sie auf das Spielfeld laufen zu lassen?«

»Exakt!« Kniewasser blieb unvermittelt inmitten des Zimmers stehen und erwiderte den fragenden Blick der Pathologin. Er machte einen entschlossenen Schritt auf die Frau zu und fragte scharf: »Wovor – oder vor wem – hat sich der alte Schroeder so sehr gefürchtet, dass er diesen Raum nicht mehr verlassen hat?«