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Freitag, 19. Mai 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 2)



2. Ein- und Überleben im Land der unbegrenzten Widersprüche


Viele kennen, denke ich, den Fahrenden Ritter (engl.: Knight Bus) aus den Harry Potter-Büchern. Den wie ein herrenloser Ritter herumvagabundierenden violetten Bus, den nur Hexen und Zauberer im Notfall rufen und benutzen. In den Büchern fährt der exklusive Bus chaotisch kreuz und quer, springt wie das im Original namensgebende Rössel im Schach querfeldein (> engl.: Knight). Der Fahrende Ritter ist im Harry Potter-Universum ein Teil der magischen Welt, für normale Sterbliche bleibt er unsichtbar. Seine Entsprechung in der Wirklichkeit hat das fiktive magische Verkehrsmittel im Yale Shuttle. Auf jeden Fall fühlt es sich für Neuankömmlinge so an. Die Busse sind natürlich nicht unsichtbar, mitfahren darf aber nur, wer einen Ausweis der Yale Universität hat. Gehört man dazu, dann ist das dichte und regelmäßige Verkehrsnetz aus mehreren Linien gratis. Um zu wissen, wo die Busse halten und wann sie fahren, braucht man keinen Zauberstab in die Höhe zu halten, aber eine entsprechende App auf dem Smartphone. Die Haltestellen sind auf der Straße gar nicht, oder nur selten markiert. Gelegentlich verrät eine größere Menschenansammlung, wo die Shuttles halten werden. Eine bunte Gruppe, die sich, die Augen fest auf die Smartphones in den Händen geheftet, nicht miteinander unterhält. Das Yale Shuttle zu benutzen ist eine Kunst, die Übung braucht. Hat man erst den Bogen raus, ist es eine feine Sache. Davor, das heißt vor dem Download und dem Verstehen der App, kommt es vor, dass die Busse trotz Winkens an einem vorbeifahren, weil z.B. nicht mehr der Nachmittags-, sondern bereits der Abendfahrplan gilt, mit unterschiedlichen Haltestellen. Dann gelten auch andere Routen, das heißt man entdeckt neue Viertel und Regionen, Orte, wo man gar nicht hin wollte. Auch schön und informativ, aber leider falsch. Ebenfalls sehr beliebt, man wartet auf den Bus in der Gegenrichtung, was bei einem Rundkurs nur in eine Fahrtrichtung etwas länger dauert. Da kommt Godot eher als der Shuttlebus. Aber hat man diese anfänglichen Hürden erst genommen, steht New Haven dem staunenden Gast offen.
Mein erster Eindruck von New Haven war ein farbenfroher. Das lag nicht alleine an den Linien des Yale Shuttles: Yellow, Orange, Red, Purple, Blue und Green. Das Straßenbild war bunt. Jede und jeder von denen, die hier studierten oder lebten, kam von irgendwoher anders. Es hat mich bewegt in einer Diskussionsveranstaltung zu hören, dass die Stadt, im Vergleich zu New York oder Brooklyn, als sehr segregated, als getrennt, wahrgenommen wird. Ich war nicht blind, mir war aufgefallen, dass alle Bus- und Taxifahrer, beinahe jeder Kellner und die Mehrheit der Hausbesorger, Straßenkehrer und Kassiererinnen Afroamerikaner oder Hispanisch waren. Die Gärtner, die das Grundstück, auf dem wir wohnen, frühlingssauber machten, waren auch Farbige. Genau wie die übrigen in unserer Wohngegend. Juliane hat auch bemerkt, dass es in den Filialen derselben Kette in unterschiedlichen Stadteilen verschiedene Waren zu kaufen gibt. Gab es in Universitätsnähe dieselben Pflegeprodukte in der Drogerie wie daheim, standen ein paar Querstraßen weiter Zahnpasta und Mundwasser mit Schmerzmittel in den Regalen. Spazierten wir an den mächtigen Universitätsgebäuden vorbei und an ihren Satelliten, d.h. an den Apartmenthäusern, Lokalen, Boutiquen und Läden, begegneten wir Obdachlosen, die uns um Kleingeld baten. Auf dem Weg zur chinesischen Reinigung kamen wir an einem Hotel vorbei, dessen Gäste so elegant und sehenswert waren, dass die Fassade des Restaurants und die Fenster der Gästezimmer als Schaufenster gestaltet waren. Und in derselben Gasse, nur ein Haus weiter, an einem zerlumpten Penner, der sich Würmer aus dem Fuß zog.
Als Europäer sahen wir die ökonomischen Gründe, z.B. den getrennten Zugang zu Einkommen, Bildung und Gesundheitswesen. Ich fand (und finde) es unappetitlich von Rasse zu sprechen. Ich bin weder Hund noch Pferd. Und obwohl ich eben kein Pelztier bin, ging – und geht – es mir gegen den Strich, seit meiner Einreise in Dokumenten meine Rasse anzugeben. Caucasian? Come on! Weder meine persönliche, noch meine familiäre Geschichte hat etwas mit dem Kaukasus-Gebirge zu tun. Ich bin auch kein blasser Hartkäse eines Hirtennomaden. Ich kannte ihn bisher nur aus den düsteren Kapiteln der Geschichte, hier gehört der Begriff Rasse für mich zum Alltag. Über eine Heritage Community, ein gemeinschaftliches geschichtliches Erbe, verfüge ich nur, wenn meine Familie auf Ausgrenzung und Ausbeutung zurückblickt. Aber dann bin ich in der Minderheit. Erst absolutes kulturelles Vergessen lässt mich zur Mehrheit gehören. Und „wir Weißen“ waren einmal so herablassend, Außereuropäer und Autochthone als „geschichtslose Wilde“ zu beschreiben.
Bei meiner Ankunft in New Haven war ich tagelang körperlich völlig fertig. Ich hatte das Gefühl, mein Tank mit Lebensenergie hatte irgendwo ein Loch. Und während es aus dem Leck rieselte, versuchte Juliane hartnäckig meine Therapie bzw. die Fortsetzung meiner Behandlung zu organisieren. Dank der zupackenden Hilfe ihres Gastgebers vom German Department war ich so ziemlich der erste Patient, der bereits zwei Tage nachdem die Ärzte im New Haven Hospital überhaupt von ihm gehört hatten, schon im Behandlungszimmer saß. Was dieser Professor für mich getan hat, grenzt an Telefonterror. Ich hatte schon drei Mal Photopherese hinter mir, als der Überweisungsbrief in Englisch aus Wien eintraf.
Eindrücklicher hätte die Aufnahme nicht stattfinden können, heftiger der Unterschied zwischen zwei Gesundheitssystemen nicht auffallen können. Ich kam auf die Station, wurde mit Handshake begrüßt und wartete vielleicht fünf Minuten, wenn es hochkommt, zehn. Dann führte ich ein ausführliches Vieraugengespräch mit dem Arzt, und im nächsten Augenblick hing ich an der Maschine. Eine Krankenschwester betreute, nein: umsorgte mich vom Beginn bis zum Ende meiner Bestrahlung. Nur mich, niemanden sonst. In zwei Behandlungszimmern standen jeweils drei bequeme Stühle, keine Krankenbetten. Bisher sind wir insgesamt nur zwei bis drei Patienten pro Tag gewesen, obwohl das Einzugsgebiet des Spitals ganz Connecticut und auch die angrenzenden Staaten umfasst. Vom Hersteller des Bestrahlungsgerätes habe ich als Willkommensgeschenk einen Seesack bekommen mit allem drin, was ich nach der Therapie brauche: Sonnenbrille, Sonnencreme, Venenball und Decke. Wenn mir während der Behandlung kühl wird, bekomme ich eine vorgeheizte Decke. Und das Beste, mein Arm bekommt eine lokale Betäubung vor dem Einstich. Wäre es nicht so eine ernste Sache, es fühlte sich an wie ein Besuch im Spa. Aber als Juliane ein entzündetes Auge hatte, und wir wie von zuhause gewohnt einfach mal so nebenbei den Arzt fragen wollten, was zu tun sei, musste erst ihre Krankenversicherung gecheckt werden. Da bekamen wir einen Eindruck davon, wie es sein muss, wie die Mehrheit der Bevölkerung keine Health Care zu haben. Und wir kamen überein, dass wir dafür gerne daheim unsere Abgaben entrichten und auch mal eine längere Wartezeit in Kauf nehmen.
Nach all diesen ersten Eindrücken von unserem (Über-)Leben in den USA muss ich es leider offen schreiben, selbst wenn ich dabei wie Urstrumpftante Aloisia rüberkomme, wir haben uns in Europa zu sehr daran gewöhnt, Vieles für selbstverständlich oder als Anspruch zu verstehen, was außerordentlich, hart erkämpft und großartig ist. Und ich gelobe jedes Mal, wenn ich mich mit Julianes Hilfe über die Stufen in ein Yale Shuttle hieve, jeder und jedem gegen das Schienbein zu treten, die ich noch einmal über die Wiener Linien raunzen höre, wo ich bequem alle drei bis sechs Minuten in einen fabrikneuen Niederflurbus einsteigen kann. Einmal auf dem Weg ins Krankenhaus sind wir in einem Busveteranen gesessen, der Laute aus dem Getriebe von sich gab, dass wir glaubten, er würde an Ort und Stelle liegen bleiben. Ich begegnete hier Menschen im Job und bei der Arbeit in einem gesegneten Alter, in dem gewisse Leute bei uns im Park sitzen und über die faule Jugend lästern. Hier kostet einfach alles Geld, und das muss jede und jeder alleine verdienen. Ohne Hilfe oder Unterstützung. Das ist nicht erstrebenswert und toll, und es ist auf keinen Fall gerecht.
Demokratie war und ist dieser Tage ein großes Thema. Dem alten Rom sehr ähnlich, droht die Diktatur die Republik abzulösen, die Loyalität zu einer einzelnen Person das allgemeine Recht abzuschaffen. Nicht nur in den USA. Und besonders bitter, für viele Menschen in der Gesellschaft hat sich in zweihundert Jahren rein äußerlich nichts geändert, außer dass sie jetzt für ihre Arbeitsleistung Steuern zahlen müssen. Und während ich als Gast im Yale Shuttle an den Kathedralen des Wissens im Tudorstil und den vollgepackten Einkaufswägen der Sandler und Penner vorbeifahre, frage ich mich, wann eine gemeinsame Entscheidungsbasis für die Demokratie geschaffen wird? Nämlich, Gesundheit und Bildung für alle.
Und trotz allem habe ich das Gefühl, schon jahrelang in New Haven zu leben. Alles sieht so vertraut aus. Die Architektur, die Holzhäuser und das Straßenbild. Sogar die Melodie des Eiswagens, der kurz darauf langsam vorbeifährt. Woher nur, fragte ich mich, kannte ich das alles? Und die Antwort war so einfach wie auch irgendwie erschreckend: Aus dem Fernsehen und aus Kinofilmen! Diese Welt ist mir aus der Freizeitunterhaltung so sehr vertraut geworden, dass ich versucht war zu glauben, längst ein Teil von ihr zu sein.



Fortsetzung folgt…