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Freitag, 28. Juli 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 10)



Teil 10: Andere Systeme, andere Sitten…


Ein College-Neubau...
Zuhause macht eine Schwalbe noch keinen Sommer. In New Haven macht ein Shuttlebus voller jugendlicher Chinesen eine Summerschool. Sprichwörter haben genau wie Werbeslogans viel an ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Manch ein Vorsprung durch Technik entpuppte sich als Vorsprung durch B´scheissen (wie der Bayer sagt). Und doch steckt zumindest in jedem Sprichwort und jeder Bauernregel immer ein Kern Wahrheit, nämlich Beobachtung. Die Ankunft der Schwalben auf dem Land war und ist verlässliches Zeichen für den Sommer. Die Ankunft der jungen Chinesinnen und Chinesen in Yale war und ist es inzwischen auch. Eine Busfahrt oder ein Spaziergang durch das Stadtzentrum im Juli vermittelt einem leicht den Irrtum, nicht in New Haven zu ankern, sondern durch die Gewässer vor Qingdao oder Shanghai zu kreuzen. Für die jungen Asiaten ist ihr Aufenthalt in Yale allerdings weniger witzig, kein Urlaub auch nicht so etwas wie Bildungstourismus. Sie wurden von ihren Familien hergeschickt, um eine Entscheidung zu treffen. Und die wird den gesamten weiteren Kurs ihres Lebens bestimmen. Die Mädchen und Burschen müssen sich für ein Bildungssystem entscheiden. Entscheiden sie sich für das US-System, dann gibt es für sie alle keinen Weg mehr zurück in das Unisystem der Volksrepublik China. Unter dieser Prämisse ist es leicht nachzuvollziehen, unter welchen Leistungsdruck sie alle leben und darum rund um die Uhr pauken. Was eine Diskussion während einer Lehrveranstaltung mit ihnen erschwert, da sie oft vorher wissen wollen, was sie als Argumente auswendig lernen sollen. Über Träume mit ihnen zu sprechen, gestaltet sich zunächst völlig unmöglich. Es dauert, bis das Eis gebrochen ist. Da kann man sehen, was der real existierende Sozialismus den Menschen antut, möchte vielleicht eine oder einer an dieser Stelle ausrufen. Aber die Mädels und Jungen im Hörsaal haben sich für den Kapitalismus entschieden. Sie verfolgen einen ganz anderen Traum, den amerikanischen. Darin ist für Fantasien und Gedankenexperimente kein Platz. Der Zeitplan ist dicht, das Ziel klar: Job und Einkommen.

Neben den asiatischen Undergraduates (dt.: Bachelorstudenten) besuchen auch andere die Summerschool. Darunter auch viele Sprösslinge der wohlhabenden Ostküstenfamilien. Diese sind wirklich sofort an ihrem Aussehen und Benehmen zu erkennen. Böse Zungen würden sagen, dass die Zahl der Abkömmlinge jener Familien, die wiederum nur untereinander heiraten, gering ist, und darum der Genpool gut überschaubar. Diejenigen, die aus ihrem Herzen keine Mördergruben machen wollen, also Leute wie ich, würden es härter ausdrücken: Manche Sitzriesen sind der Grund, warum Cousine und Cousin nicht heiraten sollten. (Und zieht euch bitte etwas an! Eine sich auf den Collegehof ergießende Menge Fönfrisuren mit nackten Oberkörper, Shorts und in Badeschlappen ist kein schöner Anblick.) Aber die Uni hat sich inzwischen für alle Bevölkerungsgruppen geöffnet. Durchmischung, kulturell und biologisch, ist zum Vorteil aller garantiert. Vorbei ist die Zeit, in der jeder Yale-Student Hebräisch lernen musste, aber keine Juden aufgenommen werden durften. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts promovierten die ersten Afroamerikaner. Und seit den 1960igern werden auch Frauen zum Studium zugelassen. Trotzdem gab es in Yale vor kurzem einen rassistischen Skandal, der viel Aufsehen in den sozialen Netzwerken erregte. Eine Studentin schrieb in ihren Restaurantbewertungen frank und frei von „white trash“, benutzte das N-Wort für Afroamerikaner, und ließ sich recht eindeutig über Hispanics aus. Ihrer Lokalauswahl und ihrem Blickwinkel war zu entnehmen, dass sie sich selbst zum US-asiatischen Kulturkreis zählte.

Wer in Zukunft zu „The Chosen“ gehören möchte, zu den Absolventen einer der Big Three (der Ivy League Unis Harvard, Yale und Princeton), die und der besucht die Sommerschool. Da werden ihnen solche Allüren ausgetrieben, und sie bekommen einen Eindruck, was sie an der Uni für ihre Studienbeiträge erwartet. Ihnen gegenüber, also auf dem Katheder, sitzen und unterrichten waschechte Yale-Professoren. Gebildete und hochintelligente Frauen und Männer, deren Lebens- und Familiensituation es verlangt, sich während der Sommermonate um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu kümmern, nicht bloß um die eigenen Kinder im neuerworbenen Eigenheim.

Farmington Canal...
Natürlich spielt auch die Optik eine tragende Rolle. Während in das UNESCO-geschützte Herz der Wienerstadt zwei Hochhäuser gesetzt werden, die in Ästhetik und Eleganz den schlechten Beispielen der Avantgardearchitektur des ehemaligen Ostblocks entsprechen, baut man in Yale ein neues College im Tudorstil. Die Baustelle beeindruckt mich, ich habe sie bereits erwähnt. Jetzt habe ich den Neubau aus Ziegeln und Sandstein in seiner vollen Ausdehnung gesehen, der einen guten Eindruck vermittelt, wie z.B. der royale Kensington Palace in London neuwertig ausgesehen haben muss. Juliane und ich waren entlang des trockengelegten und zum Radweg umfunktionierten Farmington Canal zum Yale Health Center spaziert. Durch Grünanlagen und unter Alleebäumen.

Im Yale Health Center haben Juliane und ich gelernt, dass unsere Erziehung schwarz war. Ich habe auch genug schwarze Pädagogik erleben dürfen, aber das meine ich nicht. Ich wartete auf eine Blutabnahme, wir saßen im Wartebereich. Wie immer gut gekühlt, draußen schwitzing away, drinnen bibbern. Mit uns wartete auch eine afroamerikanische Familie, d.h. die Oma im Rollstuhl, die Mama und der kleine Enkel. Die Mutter erledigte den Bürokratieteil und las aufmerksam die Papiere. Die Großmutter sagte zu dem Kleinen, er solle sich still beschäftigen und brav sein. Hätte ich den Kleinen nicht gesehen, ich hätte ihn nicht bemerkt. Juliane hielt sogar kurz einen anderen Patienten für verrückt, weil er scheinbar für Omas Rollstuhl lustige Grimassen schnitt. Aber dahinter saß der Junge. Dann erschien eine weiße Mutter, ob US-Amerikanerin oder Europäerin kann ich nicht sagen. Sie überschüttete ihren kleinen Sohn mit einer Flut an Aufmerksamkeit, in einer Heftigkeit und Lautstärke, dass der ruhigste Patient Gefahr lief, Herzflimmern zu bekommen. „Möchtest du die Leute begrüßen?“ Was ist denn das für eine Frage? Natürlich nicht! Welches Kind möchte freiwillig Wildfremden einen Guten Tag wünschen? Ich habe ja selbst keine Lust, zu jedem immer gleich freundlich und respektvoll zu sein. Aber so lauten nun mal die Spielregeln. Es war eine Freude, mich stechen gehen zu lassen. Im Behandlungsraum war es ruhig. Die Schwester musste eine Ärztin holen, weil sie meine Venen nicht fand. Ich war mir indes sicher, dass ich welche besaß. Aber ich verstand sie gut, mir Blut abzunehmen oder eine Infusionsnadel zu setzen ist wie Ledernähen. Da, wo die Narben sind, munter hineingestochen. Und wirklich hat alles bestens funktioniert.

Das medizinische Personal weiß in der Regel immer, was es tut. Und oft ist es mehr, als ich erwarte. Kleinigkeiten setzen Großes in Bewegung. Bei mir waren es zwei Hühneraugen. Ein Corn darf in den USA nur ein Arzt entfernen, mit zweien musste ich in die Ambulanz. Ich fand das etwas übertrieben und erwartete nichts. Kaum angekommen und angemeldet, wurde ich zum Röntgen abgeholt. Beide Füße von allen Seiten. Dann holte mich ein Krankenpfleger ab, setzte sich mit Juliane und mir in das Untersuchungszimmer, nahm meine Krankengeschichte auf und entschuldigte sich für den Doktor. Er bat förmlich um Verzeihung, dass wir zwanzig Minuten warten mussten! Ich hatte noch nicht einmal angefangen zu bemerken, dass ich wartete. Alle Voruntersuchungen waren erledigt. Nach zwanzig Minuten in einer Ambulanz in Europa schaue ich noch nicht einmal auf die Uhr. In den USA war es dem Arzt peinlich, dass er seinem Zeitplan nachlief. Nicht nur entfernte der Doktor meine schmerzhaften Zweitaugen, er ließ meine orthopädischen Einlagen umbauen. Er fand die Arbeit nice, aber für meine Bedürfnisse nicht perfekt. Dann kam ich ein wenig ins Schwitzen, weil er die Stirne runzelte und meinte, dass ich kein Kandidat für eine OP wäre, und er sich eine Behandlung mit Säure nicht traute, da man bei mir nicht wissen konnte, wie meine Haut reagierte. Danke, Stigmata an den Füßen wie der Heiland wollte ich nicht. Aber er beruhigte mich und konzentrierte sich auf die Einlagen. Neue, oder meine neuwertigen anpassen? Noch am selben Nachmittag bekam ich meine überarbeitet, fix fertig zum Anziehen. Orthopädische Einlagen in den USA werden so gebaut, erklärte mir die junge Frau dort, dass sie zwei bis drei Jahre halten. Individuelle Ursache und Nachhaltigkeit. Zwei Aspekte die das amerikanische Gesundheitssystem vom europäischen unterscheidet, die corporate medicine von der sozialen. Dazu muss ich festhalten, dass viel weniger Patienten dieselbe Anzahl Ärzte und modernstes Equipment zur Verfügung gestellt bekommen. Wer drinnen ist im System hat es gut.

Ich habe mich entschlossen, an einer von drei medizinischen Studien von Yale über Sklerodermie teilzunehmen. Dafür war mein Blut im Yale Health Center untersucht worden. Die Gewebeproben wurden mir im Yale New Haven Hospital entnommen. Zuerst mussten wir eine geeignete, soll heißen: betroffene Hautpartie auswählen. Dazu musste ich mein Hemd ausziehen. Meine Nacktheit, meine Hosen und Schuhe behielt ich an, löste typisch amerikanische Betroffenheit aus. Mitfühlend bot mir der Doktor ein Hemdchen an, um meine Blöße zu bedecken. „No! Thank you. I am European“, antworte ich und bestätigte dem netten Mann alle Klischees und Vorurteile Neuenglands über Europäer. Bevor ich das schmuddelige Fähnchen anzog, blieb ich lieber mit nacktem Oberkörper sitzen. Alles war vorbereitet, nur die Fläschchen für die Biopsie-Proben fehlten. Für mich kein Problem. Bis welche aufgetrieben waren, wirkte die Narkose. Dann wurden mir die Kekse aus der Haut gestanzt, und ich wurde wieder zugenäht. Alles in feinster Handarbeit. Als ich das desinfizierte Besteck daliegen sah, befürchtete ich Florence Nightingale käme persönlich als Krankenschwester zur Tür herein. Aber dieser Eindruck täuschte. Jetzt habe ich drei oder vier hübsche Schleifen im Leib, und die kommen nächste Woche wieder raus.

Wirkte das Operationsbesteck wie im neunzehnten Jahrhundert auf mich, meine Gewebespenden werden in modernster Stammzellenforschung eingesetzt. Ergebnisse werden relativ bald erwartet, eine Behandlungs-, vielleicht sogar Heilmethode in dreißig Jahren. Ich selbst habe also wahrscheinlich noch nichts davon. Trotzdem war ich von Anfang an überzeugt, mitzumachen. Seit ich an Sklerodermie erkrankt bin, suche ich nämlich auch nach etwas: Ich suche nach Sinn.

Fortsetzung folgt…
Alt und neu mal anders, rechts das ältere Yale Health Center...