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Mittwoch, 25. April 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 29)


Teil 29: Endlich Frühling!


Frühling in Connecticut. Der Dauerregen ist zu Ende. Die Sonne scheint, und die Bäume blühen. Die Squirrels hängen kopfüber in den Ästen und keckern. Offensichtlich ist ihr ganzes Blut gerade anderswo, und sie sorgen so für Ausgleich. Die Vorgärten präsentieren sich Krokus-Blau, Veilchen-Lila und Schneeglöckchen-Weiß. Seit neuestem auch Löwenzahn-Gelb. Die Bienen eilen mit vollen Höschen zwischen die Blütensträucher, und die Bienchen sind die einzigen, die sich über volle Hosen freuen dürfen. Auf dem lichtblauen Himmel drehen die Bussarde majestätisch ihre Kreise, bewahren einen kühlen Kopf und den Überblick über das Sprießen, Summen und Brummen in den Parks und Grünanlagen.
Ich bin derweil noch immer damit beschäftigt zu lernen, europäische Namen und Begriffe so falsch auszusprechen, dass mich meine US-amerikanischen Gesprächspartner richtig verstehen. Wo das Problem liegt? Für mich zum Beispiel darin, auf einem Plakat für eine Konzertreihe in Wolsey Hall den Zusammenhang zwischen dem Veranstaltungstitel „Back to Back“ und Johann Sebastian Bach herzustellen. Der Wortwitz erschließt sich, wenn man „Bach“ landesüblich und nicht Deutsch ausspricht. Wobei „landesüblich“ natürlich wie überall anders auf der Welt auch gleichbedeutend mit „richtig“ verstanden wird. Und jetzt stelle man sich das Ganze mit Französischen, Lateinischen oder Altgriechischen Begriffen vor, unter anderen mit dem Morbus Raynaud in meinen Fingern und Zehen. Der Name klingt eigentlich wie Renault. Die hiesige Version kommt da allerdings nicht ansatzweise hin, weder zum französischen Namen der Krankheit noch zu dem der Automarke. Das Ansingen von alten Gus Backus-Schlagern, z.B. von aus Kindheitserinnerungen mühsam verdrängten Perlen der Schlagermusik wie „Brauner Bär und weiße Taube“, kann erschreckender Weise wirklich helfen, den passenden Zungenschlag zu treffen. Und für alle, die Gus Backus nicht mehr kennen, Sarah Jane Scotts beliebte Weisen erledigen den Job genauso gut.
Gelernt haben Juliane und ich inzwischen auch, dass es ein furchtbares Missverständnis geworden wäre, wenn wir abends den Notruf 911 gerufen hätten, als eine unserer jugendlichen Nachbarinnen bei zirka drei bis sechs Grad Außentemperatur nur im Bademantel und barfuß hinaus auf die Straße gestürzt war. Sie war nämlich weder auf der Flucht vor häuslicher Gewalt, noch waren ihr ein Einbrecher oder sonst ein Unhold auf den Fersen. Sie holte sich bloß ihre Pizza vom Pizzaboten im auf der Fahrbahn geparkten Auto. Wir erinnern uns: barfuß. Bestimmt, um dann auf der Couch mit angezogenen Füßen die Pizza direkt aus der Schachtel zu verputzen. Ein entsprechender Fußabdruck einer unserer Vormieterinnen ziert unser weißes Sofa. Unter der Tagesdecke. Aber was verzapfe ich da schon wieder für Vorurteile?
Yale Philharmonia, Wolsey Hall.
Jede Menge Vorurteile wurden dieser Tage widerlegt und bestätigt. Ein mehrfach bestätigtes positives Vorurteil meinerseits ist die hohe Professionalität der Yale School of Music. Die Musikerinnen und Sänger sind spitze. Jedes Konzert und jede Aufführung sind ein Ohrenschmaus. Auf dieser Grundlage und von der professionellen Grafik und Bildbearbeitung der Ankündigung beeinflusst, dachte ich dasselbe auch von den Tanzgruppen der Yale Universität. Meine Therapeutin, eine ehemalige Ballerina mit osteuropäischen Wurzeln, hat an dieser Stelle meiner Erzählung schon gelacht. Sie sagte, ich hätte sie fragen sollen, bevor wir die Karten für die Präsentation am Semesterende gekauft hatten. Herzlich gelacht hat auch meine ebenso perfektionistische Gattin, als wir in der Pause die Vorstellung frühzeitig verließen. Zusammen mit ein paar anderen Besuchern, die keine Freundinnen der Darsteller oder Undergraduates (= Studenten vor dem ersten akademischen Grad) waren.
Von Beginn an waren in etwa ebenso viele Tänzerinnen und Darsteller auf der Bühne wie Publikum davor. Der Blick in die Runde brachte mich soweit, mich augenblicklich uralt zu fühlen. Insbesondere bei den sexy bzw. erotisch gedachten Darbietungen fühlte ich mich rasch wie der in Wien sprichwörtliche „Kinderverzahrer“. Die offenherzigen Formen und Bewegungen entsprachen dem Körperbewusstsein von Frühpubertierenden. Ich wusste vor Scham gar nicht, wo ich hingucken sollte. Völlig andere Generation, hätte ein lieber Freund von mir ausgerufen. Ich ignorierte beständig die Details und bestaunte fasziniert das allgemeine Geschehen. Um bejubelt und beklatscht zu werden, reichte das Betreten der Bühne. Ich habe seit ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war in Theaterstücken und Performances mitgespielt, und in diesem Probenzustand hätte ich mich nicht ins Rampenlicht getraut. Eben weil ich eine Rampensau bin. Und mich meine eigene Mutter bis zur Heiserkeit ausgebuht hätte. Hier im Zuschauerraum klingelten mir schon nach jedem Black vor einem Szenenwechsel vor Jubel und Beifall die Ohren. Die populärsten Akteurinnen wurden mit ihren Namen bejubelt. Da tönte es laut: „Okay, Cara!“ und „Okay, Sara!“ Und meiner Frau entglitt dazu mehrfach ein verzweifeltes: „Warum?“
Suchbild: Finde die institutionalisierten Geschlechterrollen!
Ich weiß jetzt immerhin endgültig, dass das Vorurteil, alle Afroamerikaner könnten tanzen, falsch ist. Schwule Jungs dagegen können definitiv tanzen. Sie waren die einzigen, die mir glaubhaft vermittelten, dass sie ihr Tun ernst meinten. Von allen anderen hatte ich den Eindruck, sie zeigten mir Posen, die Tänzerinnen und Tänzer darstellten. Von Körperspannung und Selbstverständlichkeit war noch nicht viel zu sehen. Und die Rollen, die sie für sich gewählt hatten, verkörperten trotz altgriechischer Szenentitel das Klischee einer Lebensrealität, die mit der von Yale-Studenten so vieles gemeinsam hatte wie ein Fiat Panda mit einem Porsche Cayenne. Hip-Hop und Rap bildeten den Großteil der Musikauswahl. Die Choreographien imitierten in schlimmer Weise YouTube. Es stimmt, dass es noch Gesellschaften gibt, in denen es außergewöhnlich erscheint, wenn eine Frau Single ist und ihre Rechnungen selbst bezahlt, für die Mehrheit der westlichen Welt ist das meiner Meinung nach normal und schlicht notwendig. Die Aufführung hinterließ auf meiner Zunge gerade darum einen bitteren Beigeschmack, weil die meisten der Mädels und Jungs auf und vor der Bühne bezahlten keine ihrer „Bills“ selbst. Das machten größtenteils Mommy und Daddy daheim. Urlaubstrips inklusive. Und das sie überhaupt hier in Yale studierten, das hing von der wirtschaftlichen Situation ihrer Familie und einem Empfehlungswesen ab, das erblich ist. Oder von hart erarbeiteten Stipendien. Erst diese günstige und privilegierte Ausgangssituation bietet innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Systems der USA überhaupt die Möglichkeit, all die Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die hier geboten und errungen werden. Wobei wiederum die meisten der Lehrenden ihre Abschlüsse an anderen Unis gemacht haben. Absolventen verteilen sich auf die gutbezahlten und prestigeträchtigen Jobs. Ein Teufelskreis. Und ich fürchte, die derart von gerade diesen Jugendlichen dargestellte und als Role Model interpretierte Gesellschaftsschicht hätte sich von ihrer Aufführung und Verkörperung ordentlich beleidigt gefühlt. Check your privilege!
Wie dem auch sei. Wir haben gelernt, diese Aufführungen sind von und für Undergraduates. Sie funktionieren nicht nach dem Leistungs-, sondern nach dem Social Media- oder Wunschkind-Prinzip: Du bist toll, und wir sind dazu da, damit du dich gut fühlst. Fürs Teilnehmen gibt´s für jede und jeden eine Urkunde. Für alles Applaus. Und wenn Du Mist baust, dann darf man das nicht überwerten. Und by the way, du gehörst auch noch zur Elite. Und da wundert sich wirklich noch jemand, dass es ein wachsendes Problem mit schrumpfender Frustrationstoleranz gibt?
Ich beobachte eine Elite, die wie selbstverständlich alle ihre Vorteile genießt, aber neuerdings alle äußeren Zeichen ablehnt, die jene unsichtbare Schwelle aufrichten, die gesellschaftliche Schranken ermöglicht. Kleidung und Benehmen einerseits, die imposante Architektur der Colleges andererseits. Dieser innere Widerspruch löst die von früheren Generationen bewusst erhaltene Schwellenangst auf. Was auf den ersten Blick positiv klingt, birgt meiner Meinung nach eine große Gefahr für das Gleichgewicht dieses Systems, da die tatsächlichen gesellschaftlichen Grenzen erhalten werden: Die Unis sind keine Sicherheitszonen für die Nachkommen mehr. Dieser Tage wurde der erste bewaffnete Überfall innerhalb eines so genannten Dormitorys gemeldet. Zwei Studenten wurden auf ihrem Zimmer in einem Yale Residence College ausgeraubt. Elektronik und Bargeld gestohlen. Vom Täter keine Spur. Wie die universitätsfremde Person dorthin gelangt war, trotz Security und alle möglichen Sicherheitsschranken, das wird noch für viel Kopfzerbrechen sorgen und wahrscheinlich ein paar Anwälte beschäftigen. Die Undergraduates gelten rechtlich als minderjährig, die Uni übernimmt quasi die Elternschaft (in loco parentis). Jedenfalls beim Zusehen dieser in jeder Hinsicht bemerkenswerten Tanzaufführung fühlte ich deutlich die Richtigkeit der Theorie, dass ein Universitätsstudium die Kindheit verlängert. Und das erscheint auch von allen Beteiligten gewünscht.
Ich konnte es nicht erwarten, erwachsen zu werden. Als ich als Jugendlicher „Brave New World“ von Aldous Huxley gelesen hatte, habe ich mir am Ende gewünscht, in die Strafkolonie am Ende des Romans verbannt zu werden. Zu all den Querdenkern und Intellektuellen, die nicht ins System passten und das auch gar nicht wollten. Die großen US-amerikanischen Unis entsprechen dieser Vorstellung bis zu einem gewissen Grad. Es sind Inseln der Seligen inmitten eines Ozeans aus Armut, Ungleichbehandlung, Alltagsrassismus und wirtschaftlichem Druck. Hier gilt keines der in Europa geläufigen Vorurteile über die USA. Klischees, die über dem Atlantik auch gerne gehegt und genährt werden, um sich als Alte Welt überlegen zu fühlen. Hier leben und von hier stammen die meisten der sechs von zehn Amerikanern, die gegen Donald Trump´s Politik sind.
Unterm Strich muss ich mir nach alldem zurecht den Vorwurf gefallen lassen, dass ich auch zu den Privilegierten gehöre, über die ich mich weiter oben mokiert habe. Ja noch schlimmer, bin ich doch noch nicht einmal selbst der Gelehrte, sondern bloß der Ehepartner.
Zu meinen angenehmsten Privilegien gehört, dass ich mir großartige Vorträge hervorragender Wissenschaftler anhören kann. Zuletzt von Cristóbal Rovira Kaltwasser über Populismus. Über die Politik, die wie keine andere „das Volk“ und „die Elite“ zu Widersachern erklärt und gegeneinander ausspielt. Da werden Millionäre zu Anwälten des kleinen Mannes gemünzt, und Lügen als bares Geld genommen. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht: „Geh Du weg, dass ich hin kann!“ Die Veranstaltung musste aus Platzgründen verlegt werden. Faszinierend, wie wenig populär Vorträge über Populismus sind. Wir waren insgesamt nur sechs Männer und zwei (!) Frauen. Es war gerade darum hoch interessant zu erfahren, dass weltweit der Populismus viel häufiger gescheitert ist als er erfolgreich bleibt. Von wegen auf dem Vormarsch! Da ist es doch für gewisse Politiker richtig angenehm, dass Inhalte, Ergebnisse, Zahlen und Fakten der Geistes- und Sozialwissenschaften der Öffentlichkeit als „weich“ und „exotisch“ dargestellt werden. Auch von populären Vertretern der so genannten „echten Wissenschaft“. Von den elitären Intellektuellen und Vertretern der „Orchideenfächer“ möchte niemand mehr, oder nur noch sehr wenige, erklärt bekommen, wie das System funktioniert, das so viele an der Nase herumführt. Also weg damit, den Elfenbeinturm einsparen und Allgemeinnützliches mit dem Geld finanzieren!
Aber im Moment weht hier ein ganz anderer, warmer Wind. Wir haben Frühling. Ich genieße, was geht. Der Dauerregen ist vorbei. Der Himmel ist Cyan-Blau. Die Tage werden länger, und die Hosen endlich kürzer. Ich freue mich schon sehr auf meine Cargo Shorts. Ich bin wieder mehr zu Fuß unterwegs. Jedes Mal ein wenig länger und weiter. Vorbei an den Narzissen-Beeten vor und zwischen den Wohncolleges. Unter dunkelrot blühenden Alleebäumen die wuchtigen Departments und Bibliotheken entlang zu Harkness Tower mit seinem Glockenspiel. Ein wenig Gothic Novel im Sonnenschein. Etwas Ausrasten im Schatten der Magnolienblüten. Dann wieder zurück dem grellen Leuchten der Forsythien auf dem Science Hill entgegen. Ein paar Stunden unterwegs, und ich habe den Campus nicht verlassen.
Ich bin Gilligan, und Yale ist meine Insel!

Fortsetzung folgt…