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Sonntag, 20. Mai 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 31)


Teil 31: Kommen und Gehen


In Yale steht das 317th Commencement vor der Tür. Die Graduierungsfeiern werden am Pfingstmontag stattfinden. Stadt und Universität füllen sich mit Eltern und Personen in schwarzen Talaren. Die Graduierung scheint eine der zwei Lebensgelegenheiten zu sein, an denen sich US-Amerikaner fein machen. Die eigene Beerdigung nicht eingerechnet. Bun (Haarknoten), Frotteesocken, Schlabberpulli und kurze Hosen sind Fönfrisur, Anzug und High heels gewichen. Während sich die Dormitorys leeren (die Wohncolleges), schwellen stolz die Elternbrüste. Die Undergraduates fahren heim, Auszuzeichnende und Gratulanten scharen sich, das Semester ist zu Ende.
Das Ende der Regenfälle zu verkünden war dagegen leider ein wenig verfrüht. Die Tage des Dauerregens wechseln sich rhythmisch mit den Frühlingsgewittern ab. Die Temperaturen pendeln von kühl nach heiß und wieder zurück, was nicht nur atmosphärische Entladungen zur Folge hat. Auch die Gelenke und das Genick sind verspannt. Quasi über Nacht waren alle Bäume, Sträucher und Hecken grün. Der Anblick dieser hoffnungsfrohen und lebensbejahenden Farbe lässt alles Wintergrau und -braun vergessen. Wie fortgewischt ist die Erinnerung an alles Trostlose und Leichenblasse. Es fühlt sich an, als wären Kälte und Dunkelheit niemals geschehen. Glücklich ist, wer vergisst.
Die Baumblüte ist nach wie vor beeindruckend. Die Farben verlaufen vom sprichwörtlichen Blütenweiß ins Pink bzw. Magenta, weiter ins Magentarot, und von da bis tief ins Blauviolett. In den Gärten der eleganten Häuser im Kolonialen und Viktorianischen Stil rings um das Büro meiner Therapeutin gedeihen mit den Neurosen auch die prächtigsten Pflanzen. Die umsichtigen Gärtner pflanzten sie in Etagen, so dass seit den Veilchen, Schneeglöckchen, Krokussen und Narzissen immer eine neue Gruppe Blühpflanzen zu bewundern und zu schnuppern ist. Schade, dass ich als Patient bzw. Besucher dieser Wohngegend mehr von dieser Pracht habe als ihre Besitzer. Die sind nämlich nie zuhause, oder nur selten. Und wenn, dann wohl nur abends. Die Menschen, die ich hier unter Tags treffe, sind Haushälterinnen, Paketzusteller, Therapeut*innen und ihre Patient*innen. Gelegentlich mischt sich auch mal eine Gattin mit kleinem Hund in unsere illustre Runde.
Wenn ich mit Juliane aus diesem Viertel zurück auf den Science Hill spaziere, ertappe ich mich gelegentlich dabei wie ich vor einem der Bäume stehenbleibe und minutenlang in die Blüten und auf die dazwischen herumsummenden Insekten schaue. Da kommt es schon mal vor, dass ein Student an mir vorbei eilt, kurz innehält und amüsiert schmunzelt. Es sind meistens junge Männer. Sie wirken erst belustigt, dann sofort wieder gehetzt. Sie laufen weiter. Etwas später treffe ich sie wieder, z.B. in der Warteschlange bei den Food Trucks an der Eisporthalle oder vor einem Hörsaal, den Blick starr auf das Smartphone in ihrer Hand geheftet. Das erinnert mich dann wiederum an jemanden, der mich mal ziemlich angefressen angepflaumt hat, dass er ganz sicher nicht ignorant wäre, wenn er in einem Baum „halt nur einen Baum“ sah. Derselbe Mensch erzählt inzwischen jeder und jedem, die es hören wollen oder auch nicht, dass er „mit den Augen eines staunenden Kindes“ durch die Welt streift. Gusto und Ohrfeigen sind halt verschieden.
Dieselben umsichtigen Gärtner, die die Gärten jener edlen Wohngegend bepflanzten, kümmerten sich mit der derselben saisonalen Umsicht auch um die Beete und Rabatten vor den Dormitorys. Die Tulpen, Märzenbecher und Narzissen sind pünktlich verblüht. Nachsprießen tut indes nichts. Die zahlenden Küken haben jahreszeitlich bedingt das Nest verlassen, und wie der Campus für uns andere Vögel aussieht ist egal. Für Anrainer und Angestellte braucht es keine Blumen. Uns bleiben ja noch die Bäume und die imposante Architektur.
Die gewaltigen gotischen Hallen, die neben sich alle Prachtbauten jedes mittelalterlichen Potentaten wie Bauernkaten aussehen lassen, haben sich dieser Tage bestens bewährt. Ich war jedenfalls froh, Juliane in den ehrwürdigen Hallen der Sterling Library zu wissen, während mein Handy und alle anderen Mobiltelefone der Stadt laut Alarm quäkten. Die Regierung verschickte eine Tornadowarnung. In wenigen Minuten wurde der sonnenhelle Nachmittag stockfinster. In Windeseile bedeckten dunkle tief hängende Wolkenbänke den Himmel. Der kurz darauf einsetzende Gewittersturm brachte unser Holzhaus ins Ächzen und Schwanken, und die Mülltonnen der Nachbarschaft zum Fliegen. Bäume stürzten auf Häuser, Autos und Stromleitungen. Ein paar weniger privilegierte Viertel waren zwei Tage lang ohne Strom. In der Bibliothek fühlte sich das alles wie ein lauer Wind an. Das Ausmaß der Verheerung wurde Juliane erst beim Verlassen der Wissenskathedrale sichtbar. Der Abendhimmel nach Thors nachmittäglichem Hammerschwingen zeigte sich wiederum in Farben, die ich noch nirgends zuvor gesehen hatte. Umrandet von starkem Anthrazit glühte ein Streifen aus Blau, Silbergrau und Magenta vor dem Horizont. Den Eindruck muss man sich zusammen mit dem Geruch von nassem Asphalt und aus Wiesen und Bäumen aufsteigendem Dunst vorstellen.
Und zwischen all dem Chaos lag eine elektrische Heckenschere in der Wiese gegenüber im Botanischen Garten. Sie liegt immer noch dort. Gelb, gut sichtbar und seit Tagen im anhaltenden Dauerregen. Ich nehme bösartig an, dass sie von Student*innen für ein Selfie oder ein Youtube-Video aus dem Werkzeugschrank geholt und danach einfach an Ort und Stelle liegenlassen und vergessen worden ist. Bemerkbare Arbeiten wurden nicht damit verrichtet. Der kahlköpfige Herr im Feinrippunterhemd wird sich freuen, der so unverkennbar osteuropäisch wirkt und sich tatsächlich um den Garten und seine Glashäuser kümmert. Die Heckenschere ist meiner Meinung nach inzwischen verschieden. Und dabei gilt hier das Klischee als Wahrheit, dass alle Dinge im Kommunismus kaputt gegangen sind, weil sie niemanden gehörten.
Wenn Juliane in einem Gespräch erwähnt, dass sie im Kommunismus aufgewachsen ist, nämlich in den letzten Zügen der DDR, bekommen zuhörende junge Frauen große Augen und ausgewachsene Mannsbilder erblassen. Ähnlich verblüffte Blicke zieht umgekehrt ihr entsetztes Gesicht auf sich, wenn sich das Seitenfenster eines geparkten Autos öffnet, und eine Hand den Müll einfach auf den Gehsteig wirft. Und genau dieses erstaunte Reagieren der Leute ringsum auf ihre erschreckte Reaktion (und nicht auf die Respektlosigkeit und Verschmutzung) ist meiner Meinung nach der Grund, warum es hierzulande niemand nirgends schön haben kann. Außer in Disneyland. Und der Restmüll den alles erklärenden Namen „Landfiller“ bekommen hat (dt.: Landschaftsfüller).
Auch die örtliche Eigenart barfuß nach draußen, auf die Straße oder zu den Mülltonnen zu gehen, ist eine Lebensrealität, mit deren Datenverarbeitung ich mir schwer tue. Nichtsdestotrotz ist es gängige Praxis, ob ich dieses Verhalten unserer Nachbar*innen verstehe oder nicht. Ich will mir gar nicht vorstellen, welchen Schmutz und wie viele garstige Keime ich mir so auf die Fußsohlen und in meinen innersten Wohnbereich hole. Und mich quälen auch wieder andere trübe Gedanken: Besorgt trete ich ans Fenster und betrachte die leeren Garagen in unserem Hinterhof. Nachdem ein Universitätsjahr vergangen ist, haben auch zwei unserer Mitbewohner sowohl Yale als auch unser Haus verlassen. Darunter auch der nette Junge aus Tennessee, dem wir unseren Stellplatz abgetreten haben. Sein Auto hat er natürlich mitgenommen. Und ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis die unter den hiesigen Youngstern herrschende „Alles gehört jedem, darum zernutze ich alles“-Einstellung wieder schlagend wird, und irgendwelche Nachbarn ohne die Miete dafür zu bezahlen ihre Autos unter unserem Dach abstellen. Würden sich diese Kids auf ihrem Weg durch die Welt nicht gebärden wie die Heuschreckenschwärme und allerorts unbewohnbare Wüsteneien hinterlassen, hätte ich auch gar nichts dagegen. Ich bin leider nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass eine Consuela oder ein Jose ständig hinter mir herräumt, oder dass, wenn ich etwas demoliere oder verliere, es von den Eltern sofort ersetzt wird. Und hier angelangt und meiner selbst wieder bewusst, frage ich mich, ob ich langsam zum grantigen alten Furz degeneriere. Aber tatsächlich schließt sich genau an dieser Stelle der Kreis zur verlassenen Heckenschere in der Wiese.

Fortsetzung folgt...